Depression und Intelligenzminderung

Geistig behinderte Menschen, sind Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Aber ansonsten sind sie wie wir, und sie erkranken natürlich auch an den gleichen Erkrankungen. Wenn jeder 2. Mensch im Laufe seines Lebens an einer Depression erkrankt, gilt das natürlich auch für jeden 2. Menschen mit besonderen Bedürfnissen.

Somit ist die Depression wohl die am häufigsten nicht erkannte Krankheit bei einem Menschen mit einer Intelligenzminderung.

Geistig behinderte Menschen sind oft nicht in der Lage zu sprechen. Bei schwerer und schwerster geistiger Behinderung muss man sich einen Patienten vorstellen, der eine kognitive Leistung eines 0-3 Jährigen hat. Wenn das vergleichbare Alter 3 Jahre ist, kann man sich gut vorstellen, dass eine Kommunikation zwar etwas schwierig aber doch gut möglich ist, bei einem Vergleichsalter von 3 Monaten wird es aber schwierig. Zwar können Grundstimmungen erkannt werden, aber eine Kommunikation ist nicht möglich. Eine Depression erkenne ich indem ich frage: Haben sie in letzter Zeit eine schlechte Stimmung, machen Ihnen Ihre Hobbies Spass – so wie früher, ist die Stimmung in der Früh besonders schlecht, haben Sie vielleicht sogar einmal Lebensüberdrussgedanken gehabt? Was kann ich unseren Patienten fragen, oder auf was kann ich achten?

Eines der wichtigsten Symptome einer Depression, die Durchschlafstörungen kann ich leicht beobachten, auch die schlechte Stimmung kann ich erkennen, nicht als depressive Stimmung, eher als Aggression oder als Rückzug. Wenn ein Patient nicht mehr die Nähe seiner Bezugspersonen sucht, ist das ein sehr deutlicher Hinweis auf ein Stimmungstief. Auch Stimmungsschwankungen über den Tag, am Morgen ist der Patient am aggressivsten, am Abend geht es besser. Eigentlich ist es also nicht so schwer auf die richtige Fährte zu kommen. Das Problem ist aber meist die primäre Reaktion entweder Rückzug – dies wird als „braver“ Patient völlig falsch gedeutet, oder der Pat ist aggressiv, dann werden müde machende Medikamente gegeben. Diese  Medikamente wirken zumindest anfangs recht gut, aber sie haben einen gravierenden Nachteil, sie verstärken noch einmal die Depression, und daher verlieren sie nach einiger Zeit zunehmend an Wirkung, worauf meist die Dosis erhöht wird usw.

 

Aggression und Behinderung

Aggression ist ein besonderes Problem bei behinderten Menschen. Nicht weil Behinderte aggressiver sind als nicht geistig Behinderte, das sind sie nicht. Das Problem ist die richtige Deutung der Aggression. Welche Formen der Aggressionen gibt es bei geistig behinderten Menschen?
Aggression als verzweifelter Ausdruck des nicht Verstanden Werdens:

Dies ist wohl die häufigste Form. Ein schwer geistig behinderter Patient kann nicht sprechen und versteht oft auch nicht was die anderen von ihm wollen. Stellen Sie sich das einmal vor sie möchten einen Spaziergang machen, und Ihre Betreuer geben Ihnen immer etwas zu Essen oder trinken, oder meinen ob man aufs Klo muss?! Wenn sie sich das gut genug vorstellen, werden sie erleben wie Ihnen auch der Hut platzt, und sie losschreien – und dann heißt es,  der Patient ist aggressiv, er schreit ganz unmotiviert! Deshalb haben wir in unserem Pflegezentrum begonnen mit Bildkarten zu arbeiten, einigen Bewohnern können wir beibringen, sich mit Bildern verständlich zu machen.
Aggression als Ausdruck der Trauer, der Depression:

Das Gehirn hat die Erkrankung einer Depression, mit den Symptomen der Lust- und Freudlosigkeit, der Antriebslosigkeit, man spürt sich nicht mehr, man kann keine Freude mehr erleben. Hierbei kommt es oft zu Autoaggressionen als Selbstverletzungen und auch zu Fremdaggressionen. Man erkennt oft, dass die Ursache einer Aggression eine Depression war, wenn diese kurz nach dem Beginn einer Antidepressiven Therapie verschwindet. Und die Medikamente welche heute gegen Depressionen eingesetzt werden sind im höchsten Maß harmlos, sie machen nicht müde, haben kaum Nebenwirkungen – und wenn sie richtig verabreicht werden, eine phänomenale Wirkung.
Aggression als Wut:

Oft ist die Ursache einer Aggression einfach Wut. Ein Betreuer kann den Wunsch eines Bewohners nicht erfüllen, oder zwischen zwei Bewohnern bricht ein Streit aus. Das sollte man ähnlich sehen wie Kinder die streiten, das hat meist nicht viel zu bedeuten, und vergeht schnell wieder. Ich muss aber zugeben wenn ein 100kg schweres Kind auf mich zugestürmt kommt und wütend ist weil es jetzt keine Schokolade bekommt, ist das eine schwierige Situation. Aber die Betreuer von psychisch kranken kennen ihre Schützlinge fast immer so gut, dass sie solche Situationen gut und sicher meistern können, zumindest meistens.
Aggression wegen einer Psychose.

Bei einer Psychose erlebt das Gehirn die Umwelt falsch, Harmloses wird als bedrohlich erlebt, es werden Stimmen gehört, wo nichts zu hören ist, oder jemand sieht etwas das es gar nicht gibt. Das Gute an Psychosen ist, dass man sie heute gut mit Medikamenten behandeln kann. Die modernen Neuroleptika haben kaum noch die Nebenwirkungen welche diese Medikamente noch vor 20 Jahren hatten – wenn sie auch eingesetzt werden. Ich habe oft beobachtet, dass bei behinderten Menschen oft die alten und ganz alten Medikamente eingesetzt werden und diese haben massive Nebenwirkungen. Warum das so ist kann ich nicht sicher sagen. Einerseits weil sie für unspezifische Psychosen zugelassen sind, das sind die modernen Präparate meist nicht, andererseits weil sie am effektivsten ruhig stellen – das ist aber aus jeder Sicht abzulehnen! Die unspezifische Psychose muss aber nicht als Diagnose verwendet werden – im Gegensatz zu früher sieht man heute nicht mehr eine Psychose bei einem Behinderten als Pfropfpsychose, als die Reaktion eines behinderten – also zum Beispiel vorgeschädigten Gehirnes – sondern als eigenständige Erkrankung aus dem Kreis der Schizophrenie oder auch als schizoaffektive Psychose. Und für diese Erkrankungen sind die modernen guten Medikamente zugelassen, und sehr erfolgreich im Einsatz
Aggression als Lust:

Das Thema ist schwierig. Wir wissen nur wenig über das Phänomen der lustvollen Aggression. Wir wissen, dass dieses Phänomen extrem verbreitet ist, aber wir haben uns selber unter Kontrolle, mit Hilfe unseres Verstandes. Bei geistig Behinderten ist diese lustbetonte Aggression selten, wenn sie jedoch auftritt ist sie nur sehr schwer zu bewältigen. Wenn jemand Spaß hat anderen wehzutun, so ist dagegen kein Kraut gewachsen. Hier ist der Einsatz sedierender Medikamente, also müde machender Medikamente oft der einzige Weg, und dieser hilft oft nur kurzfristig.